Aus dem Buch "Moslem oder Müslüman?"

 

Es geht um ein kleines Mädchen türkisch/persischer Abstammung, dass die Welt und ihre Religionen auf unterschiedlichste Weise entdeckt, ohne selbst zu wissen was "Religion" ist.

 

Moslem oder Müslüman?

 

von Sevinç Neumann

 

Aus dem Kapitel "Religionsunterricht"

 

Eines Tages hieß es in der Schule, wir hätten ab morgen Religionsunterricht. Wie erwähnt bin mir nicht sicher, ob es im zweiten Halbjahr der ersten Klasse war oder in der zweiten Klasse. Ich tendiere dazu, dass es im zweiten Halbjahr in der ersten Klasse war. Denn zuerst war ich das einzige türkische Mädchen in der Klasse und danach kam eine weitere Türkin namens Aynur von ihrer Kur in unsere Klasse.

Kurz nachdem sie in unsere Klasse gekommen war, hörte ich von dem Religionsunterricht. Einige Schüler freuten sich darauf und einige fanden ihn doof.

Ich wusste gar nicht, was Religion sein sollte, und äußerte mich überhaupt nicht dazu. Voller Spannung und Neugierde erwartete ich dieses Fach. Lesen, Schreiben und Rechnen konnte und kannte ich bereits, und nun fragte ich mich, was ich wohl als nächstes lernen würde.

Ich konnte das Rätsel Religion nicht selbst lösen und hoffte nur, dass es nicht wieder so etwas Schweres war.

Die Religionslehrerin war eine ältere Dame, die ich bislang nur vom Sehen kannte. Sie betrat unser Klassenzimmer und stellte sich als Frau Bär vor.

Als nächstes rief sie meinen Namen, den Namen von Aynur, dem einzigen anderen türkischen Mädchen in der Klasse, und zwei Jungennamen auf.

Sie sagte, „Sevinc und Aynur, Ihr dürft nicht am Religionsunterricht teilnehmen, weil Ihr Moslems seid, Jan und Mark ihr dürft auch nicht am Religionsunterricht teilnehmen, weil ihr Katholiken seid. Die anderen dürfen am Unterricht teilnehmen.“

Moslem? Katholiken? Was war das denn?

Ich sah Aynur, Jan und Mark fragend an und bildete mir ein, dass sie sprachlos und traurig  waren. Keiner von ihnen sagte etwas, sondern sie senkten den Kopf und schwiegen.

Ich fühlte mich wie eine Aussätzige und vor der ganzen Klasse bloßgestellt. In mir rebellierte eine unbeschreibliche Energie. Diesmal konnte ich nicht aus Angst vor Zwangsferien Ruhe geben und glücklich lächeln. Noch nie wurde ich vom Unterricht ausgeschlossen. Sogar Frau Dörfler hatte dies nicht getan.

Ich empfand Frau Bär als sehr gemein, weil sie uns vier vor der ganzen Klasse bloß gestellt hatte.

Sogar mein griechischer Mitschüler Georg durfte am Religionsunterricht teilnehmen, obwohl es doch hieß, dass die Griechen Feinde waren.

Persönlich sah in einem Griechen zwar keinen Feind, wie es mein Onkel ab und zu gesagt hatte, aber das war für mich doch unerklärlich. Das ging dann doch zu weit.

Die Aussagen meines Onkels irritierten mich und ich wunderte mich, warum mein Vater sich mit Georgs Vater so gut und freundschaftlich verstand. Ich fragte meinen Vater, ob die Griechen unsere Feinde seien, und er sagte eindeutig, „Nein! Das sind Menschen wie Du und ich. In der Vergangenheit führte die Türkei mit Griechenland einen Krieg, aber das ist Geschichte und macht mich nicht zum Feind von Georgs Vater. Wir verstehen uns sehr gut.“

Ich verstand die Lehrerin nicht, wir waren doch nicht die Feinde. Warum wurde Georg nicht ausgeschlossen, oder waren die Katholiken noch schlimmer?

Vielleicht hatte mich die Lehrerin auch nur mit Georg verwechselt, vielleicht war Georg ein Moslem.

Ich war mir jedenfalls sehr sicher, kein Moslem zu sein.

Die Religionslehrerin musste sich irren. Ich selbst hatte gar nichts getan oder entschieden oder je von einem Moslem gehört, dachte ich mir.

Ein weiteres türkisches Mädchen wurde auch als Moslem bezeichnet und zwei deutsche Kinder wurden ebenfalls ausgeschlossen, weil sie Katholiken waren.

Sie musste mich auf jeden Fall verwechseln!

Vielleicht sagten die anderen ausgeschlossenen Kinder auch nichts, weil sie sich ihrer Schuld, ein Moslem oder Katholik zu sein, bewusst waren.

Ich konnte nur für meinen Teil sprechen. Ein paar Sekunden plagte mich sogar die Angst, etwas Falsches getan zu haben, das mich zum Moslem gemacht hatte.

Was hatte ich nur getan, dass ich ausgeschlossen wurde?

Diesmal wollte ich auf keinen Fall schweigen.

Ich versuchte mit der Religionslehrerin zu reden, damit ich am Religionsunterricht teilnehmen durfte. Doch alles Reden half nichts. Sie sagte mir, dass meine Eltern die Teilnahme am Religionsunterricht  nicht erlaubten, weil ich ein Moslem sei.

Als die Lehrerin das sagte, hielt ich ihre Aussage auf jeden Fall für eine Ausrede.

Und wenn es keine Ausrede war, war es der Beweis für ihren Irrtum.

Ich wollte die Angelegenheit klären und sagte ihr, dass meine Eltern nichts dagegen hätten, wenn ich am Religionsunterricht teilnehmen würde. Schließlich hatten mir meine Eltern nicht gesagt, dass ich irgendetwas in der Schule nicht lernen darf.

Ganz im Gegenteil, mein Vater sagte mir immer, ich solle fleißig sein und immer gut aufpassen.

 

„Nein“, sagte die Lehrerin, „Du bist ein Moslem.“

„Nein“, sagte ich, „Das müsste ich doch wissen!“

 

Ich wusste nicht, was es hieß, ein Moslem zu sein, ich wusste nur, dass ich es nicht war.

Wie kann man etwas sein, das man nicht kennt?

Noch nie zuvor hatte ich von einem Moslem gehört!

Ich war mir sicher, dass es etwas ganz Schlimmes sein musste, denn wir wurden ausgeschlossen.

Ich fühlte mich wie eine Bakterie, wie eine Krankheit und ich fragte mich, was wohl schlimmer war, ein Moslem zu sein oder ein Katholik?

War Aynur vielleicht deshalb in Kur gewesen? Weil sie ein Moslem war?

Die Lehrerin forderte mich auf, still zu sein, mich hinzusetzen und etwas zu malen.

Während des Unterrichts durften wir das Klassenzimmer nicht verlassen. Wir durften zwar im Raum bleiben, uns aber nicht am Unterricht beteiligen.

In der Zeit sollten wir uns einfach beschäftigen, malen, lesen, schreiben.

Die erste Religionsstunde war für mich die reine Qual.

Ich fühlte mich ungerecht behandelt, beleidigt, ausgeschlossen und diskriminiert.

Ich musste mich vergewissern, ob nur ich Unrecht erfahren hatte, oder ob dies auch für Aynur galt.

Weil Aynur meine Tischnachbarin war, flüsterte ich ihr gleich zu: „Bist Du Moslem?“

Sie nickte mit dem Kopf.

Sie tat mir irgendwie leid.

Ich konnte mich gegen die Vorwürfe wehren, aber Aynur war leider Moslem und daher zu Recht vom Unterricht ausgeschlossen.

Flüsternd fragte ich weiter: „Warst Du deshalb in Kur?“

Sie schüttelte mit dem Kopf.

„Warum dann?“

„Weil ich zu dick war, ich musste abnehmen“, flüsterte sie zurück.

Plötzlich kam mir ein anderer Gedanke. Aynur saß direkt neben mir, sie war ein Moslem. Hatte mich die Lehrerin deshalb verwechselt?

Ich musste dieses Missverständnis aufklären und das elende Gefühl einer Aussätzigen loswerden.

Die Lehrerin sollte erfahren, dass ich kein Moslem bin und danach sollte sie es der ganzen Klasse erzählen! Damit mich die anderen nicht mehr so mitleidig anschauen, so wie ich Aynur angeschaut habe.

Trotzdem hielt ich es als Nichtmoslem für nötig, Aynur zu trösten. „Sei nicht traurig“, sagte ich ihr, „das geht vorbei, irgendwann darfst Du bestimmt auch am Unterricht teilnehmen.“

Voller Überzeugung, kein Moslem zu sein, ging ich nach Hause und konnte es kaum erwarten, meinen Vater zu fragen, ob ich Moslem wäre?

Ich war mir sicher, dass sich dieses Missverständnis klären würde, ich müsste nur mit meinem Vater sprechen!

Mein Vater musste es dann irgendwie mit Hilfe meiner älteren Schwester schaffen, die Religionslehrerin davon zu überzeugen, dass ich kein Moslem wäre.

 

Als ich meinen Vater zu Hause antraf, fragte ich ihn sofort: „Papa, bin ich ein Moslem?“ Er schaute mich nachdenklich an und fragte mich dann: „Was ist ein Moslem?“

Bei seiner Gegenfrage fielen mir tonnenweise Steine vom Herzen.

Sogar mein Vater wusste nicht, was ein Moslem ist!

Es musste sich um ein Missverständnis handeln.

 

Dann fragte er mich: „Was ist denn nun ein Moslem, meinst Du etwa einen Müslüman?“

 

 

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